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Wie erstellt man ein Schutzkonzept für ambulante Hilfen?

Schutzkonzepte für die ambulante Hilfe sind bislang in der Hilfelandschaft noch nicht etabliert, es kann aber davon ausgegangen werden, dass sie auch hier erfolgreich umgesetzt werden können. Bei der Implementierung eines Schutzkonzeptes geht es nicht um das Abarbeiten eines vorgegebenen Planes. Das Ziel ist mehr ein stetiger Prozess, der sich in der Auseinandersetzung mit der Thematik, der Reflexion der eigenen und einrichtungsinternen Haltung, dem Hinterfragen von Unsicherheiten und dem Aneignen von Wissen und Handlungskompetenzen zeigt. Dabei sollte die gesamte Einrichtung Teil des Prozesses sein und sowohl bei der Erarbeitung beteiligt werden als auch von den Ergebnissen profitieren.

In der Arbeit mit den Familien und einzelnen Klient*innen sind die Ausgangssituationen, der Hilfebedarf, das Aufgabenspektrum und der Verlauf der Hilfeleistung sehr individuell, facettenreich und von der vorliegenden Situation und Problematik abhängig. Ein standardisiertes Vorgehen und „Abarbeiten nach Plan“ ist allgemein nicht möglich.

Ein begünstigender Faktor speziell im Rahmen der SpFh zur erfolgreichen Umsetzung von Schutzmaßnahmen ist, dass die Fachkräfte persönlichen Kontakt zu den einzelnen Adressat*innen sowie zu möglichen familieninternen und/oder umfeldnahen Ressourcen haben. Es können Räume geschaffen werden, um mit einzelnen Familienmitgliedern individuell in Kontakt zu treten und zu arbeiten. So kann der jeweilige Hilfebedarf auch in Bezug auf Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den Fokus genommen werden und bei ggf. langfristiger Begleitung der Familie an einer lebensweltorientierten und nachhaltigen Problemlösung gearbeitet werden.

Ziel eines Schutzkonzeptes ist es unter anderem, die Fachkräfte durch angemessenes Fachwissen, reflektierte Wahrnehmung und eine professionelle Grundhaltung zu mehr Handlungssicherheit und Bewältigungskompetenz zu befähigen. Um dies sicher zu stellen und zu schulen, braucht es einen themenspezifisch etablierten institutionellen Rahmen.

Zur Etablierung eines Schutzkonzeptes bedarf es einer kontinuierlichen und intensiven Beschäftigung, die meist zu Beginn zeitaufwändig und kleinschrittig ist, routinierte Verhaltensmuster hinterfragt und somit zum Teil Konfliktpotential mit sich bringt. Der sich bildende Konsens führt aber zu einer Entlastung und Professionalisierung auf mehreren Ebenen, die sich auch positiv auf weitere Bereiche im Kontext der SpFh übertragen lassen. Zum Beispiel: Umgang mit Substanzmissbrauch, Umgang mit Gewalt, Kindeswohlgefährdung und Kinderschutz, Thematisierung von Unsicherheiten in der Arbeit allgemein, fehlerfreundliche Institutionskultur und viele weitere.

Die Entwicklung, Verwirklichungen und Festigung eines Schutzkonzeptes und institutionell gemeinsamen Konsens braucht im Arbeitsalltag regelmäßige Settings. Dabei muss es nicht ausschließlich um die Thematisierung sexualisierter Gewalt gehen, z.B. wenn die Kapazitäten der Einrichtung dafür nicht ausreichend sind. Entscheidend ist, dass für die Fachkräfte klar sein muss, wo Themen wie Umgang mit sexualisierter Gewalt über Akutfälle hinaus angesprochen werden können und ein Austausch über Elemente und Inhalte von Schutzkonzepten stattfinden kann. Dies könnten z.B. regelmäßige thematische Teamsitzungen oder Supervisionen sein. Bei größeren Trägern ist auch die Einbeziehung anderer Professionen sinnvoll. Die Initiierung einer thematischen Verantwortungsgruppe/ Themen-AG wäre eine weitere Option. Wünschenswert wäre auch die Installation einer institutionseigenen Stabstelle, welche speziell oder stundenweise für ein Schutzkonzept und damit einhergehenden Aufgaben (z.B. Beschwerdestelle, interne Fortbildungen etc.) verantwortlich ist. Je nach Kapazitäten und Engagement sollten im jeweiligen Rahmen Verantwortlichkeiten in Bezug auf aktuelle Fragen und Themen im Team verteilt und übernommen werden.

Denkbare Teilbereiche dabei wären:

  • Informationen und Fachwissen einholen
  • Kontakt zu Kooperationspartner*innen aufbauen und halten
  • einzelne Elemente einer Schutzleitlinie vorstellen und etablieren
  • einen Sammelordner mit Sitzungsprotokollen, Informationen und Dokumentationen pflegen
  • Die Ausarbeitung konkreter Ziele und institutionsinterner „Festlegungen“, z.B.:
    • internes Beschwerdemanagement für Adressat*innen (Infobrief)
    • Verhaltenskodex
    • Einrichtungsinternes Vorgehen bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt

Es kann gesagt werden, dass es für jede Umsetzung von Bestandteilen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt einer institutionell unterstützenden Grundhaltung bedarf. Die Institutionen tragen die Verantwortung dafür, dass Schutzprozesse und professionelles Handeln allgemein durch die Fachkraft der SpFh umgesetzt werden und diese langfristig umsetzbar und anwendbar bleiben. Daher sind sie auch dafür verantwortlich, entsprechende Ressourcen (Zeit, finanzielle Mittel, Personal) bereitzustellen und einen Rahmen zu schaffen, in dem Austausch, Reflektion und Lernen stattfinden können.

In der Schutzkonzeptentwicklung sollte von Beginn an die gesamte Institution in der Ideenfindung und dem Prozess involviert sein. Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass sich der Prozess und die Investierung der Ressourcen in jedem Falle langfristig, häufig aber bereits mittel- oder schon kurzfristig positiv auf die gesamte Arbeit der Institution auswirkt und ein funktionierendes Schutzkonzept auch wie eine Art „Gütesiegel“ betrachtet werden kann.

Ein Blick in mögliche übertragbare Elemente

Grundsätzlich bieten Schutzkonzepte einen guten Rahmen, um einen umfassenden Schutz bei sexualisierter Gewalt zu erreichen. Für das ambulante Arbeitsfeld lassen sich allerdings aufgrund der Unterschiedlichkeit in den Grundvoraussetzungen nur wenige Bestandteile der „klassischen Schutzkonzepte“ übernehmen und müssen für die Hilfeform neu gedacht und entwickelt werden. Bestehende Schutzkonzepte können aber durchaus als Ausgangspunkt für die eigene ambulante Institution genutzt und als erste Ansatzpunkte für eine eigene Umsetzung betrachtet werden!        

Entsprechend den individuellen Hilfebedarfen müssen die etablierten Bestandteile auch so gestaltet sein, dass sie schnell und effektiv nutzbar gemacht werden können. Eine Etablierung von klassischen Schutzkonzepten mit vielzähligen Einzelelementen ist für diese Arbeitsform nicht kompatibel, da Zeit und „Aufwand“ nicht im Verhältnis stehen würden und die Ressourcen (Zeit, finanzielle Mittel, Fachpersonal) oft begrenzt sind. Daher wäre zu überlegen, wie sich Bestandteile methodisch kombinieren lassen und evtl. durch ein Element mehrere thematische Bestandteile abgedeckt werden.

Es folgen drei ausgewählte Elemente als exemplarische Ansatzpunkte um erste Möglichkeiten der Übertragung aufzuzeigen. Umfassendere Praxisbeispiele können u.a. den Literaturempfehlungen entnommen werden.

Informationsbrief oder -mappe

Informationsbriefe oder -mappen erhalten alle Familien zum Hilfebeginn von der Einrichtung und bekommen so, unabhängig von der betreuenden Fachkraft, alle notwendigen Informationen zum Hilfeablauf, zu Beschwerdemöglichkeiten und weitere Kontaktdaten zur Einrichtung. Vielen Adressat*innen ist - durch die Präsenz der einzelnen betreuenden Fachkraft - meist der institutionelle Hintergrund und die dadurch erweiterten Hilfe- oder auch Beschwerdemöglichkeiten gar nicht bewusst. Der Informationsbrief schafft eine erste Informationsgrundlage der Unterstützungsmöglichkeiten über die Hilfe durch die „zugeteilte“ Fachkraft hinaus. Eine Erweiterung um themenspezifische Informationen und Kontaktmöglichkeiten zu weiterführender Netzwerkpartner*innen wäre möglich, um die Adressat*innen speziell in der Bewältigung von Themen und Themenkomplexen zu unterstützen.

Weiterhin kann die Institution auf vorhandene Leitbilder und einen Verhaltenskodex aufmerksam machen, der sowohl die Haltung der Einrichtung als auch die Rechte der Adressat*innen bei Grenzüberschreitungen durch Fachkräfte deutlich macht. Wichtig ist, dass speziell Informationen über Beschwerdemöglichkeiten oder das gesamte Informationsmaterial direkt von der Institution zu den Adressat*innen gelangen, damit der  Informationsfluss nicht allein von der betreuenden Fachkraft abhängt und/oder durch diese eventuell sogar blockiert werden kann.

Sexualpädagogisches Konzept

In Bezug auf Aspekte zur Prävention sexualisierter Gewalt und Informationsvermittlung speziell von Sexueller Bildung kann durch die Fachkräfte als erster Schritt auf Informationsbroschüren, Flyer sowie auf Informationsveranstaltungen für Familien von Netzwerkpartner*innen oder anderen lokalen Fachakteur*innen verwiesen werden. Erfahrungen der Praxis zeigen, dass viele Familien in Bezug auf Themen der Sexuellen Bildung aufgeschlossen reagieren und es als Teil der Hilfeleistung akzeptieren bzw. nicht in Frage stellen. Dabei stellen nicht nur die Kinder und Jugendlichen eine mögliche Zielgruppe dar. Auch, wenn sich Fachkräfte auf dem Themengebiet selbst unsicher fühlen, sollte in den Familien signalisiert werden, dass es eine Offenheit für die Thematisierung von Sexualität gibt. Fragen und Gesprächsbedarfe sollen ernstgenommen und nicht tabuisiert werden. Ein institutionell erarbeitetes sexualpädagogisches Konzept als Teil eines Schutzkonzeptes kann Sicherheit bieten, einen professionellen Umgang mit schambesetzten Themen zu finden.  

Ampelmodel

Beim Ampelmodel geht es im Kern darum, Haltungen, Verhalten und Situationen zu beurteilen und den drei Bereichen grün: erlaubt/erwünscht; gelb: unerwünscht (teilweise aber geduldet) und rot: verboten, zuzuordnen. Schlussfolgernd soll gemeinsam nach Lösungen gesucht werden, um den grünen Bereich zu stärken. Die Ampel wird institutionell unter Einbeziehung „aller“ Fachkräfte, oder im Hilfekontext mit den Adressat*innen (auch mit den Kindern) gemeinsam entwickelt.

Die Methode ist leicht und individuell umsetzbar, kann anhand beispielhafter Vorgaben oder aufgrund bereits erlebter oder beobachteter Situationen angewendet und jederzeit wiederholt werden. So können beispielsweise auch Prozesse und Veränderungen (im Idealfall: Entwicklung von rot oder gelb zu grün) sichtbar gemacht werden.

Der Vorteil des Ampelmodells ist, dass es für alle Beteiligten gut nachvollziehbar und ggf. auch mit Bildern ergänzbar ist und so auch für Kinder oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder bei Sprachbarrieren umsetzbar ist. Es können sowohl akut- und Wunschzustände als auch Veränderungen und Verläufe gut dargestellt werden. Ebenso eignet sich das Modell für weitere bzw. sich überschneidende Themenfelder, die mit dem Umstand einer Grenzverletzung, Gewalterfahrung oder Kindeswohlgefährdung einhergehen.

Die Ergebnisse der erarbeiteten Ampeln sollten allen Beteiligten zugänglich sein. So kann sie auch als Grundlage für weitere Bausteine einer Leitlinie, z.B.: Verhaltenskodex, Risikoanalyse, Interventionsplan, Beschwerdemanagement etc. fungieren oder auch als Einstieg ins Gespräch über Grenzverletzungen, Gewalt und sexualisierte Gewalt genutzt werden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass mit einer wohldurchdachten, geeigneten Maßnahme der Einstieg in die Arbeit mit der Thematik sexualisierte Gewalt gewährleistet werden kann. Danach muss nicht jeder Themenkomplex einzeln abgedeckt werden, sondern viele Aspekte sind miteinander verknüpfbar bzw. können aufeinander aufbauend entstehen. Jede umgesetzte Maßnahme ist ein Baustein eines Schutzkonzeptes. Auch wenn ein umfangreicher Schutz auf allen Ebenen nur durch einen langfristigen Prozess möglich ist, ist jeder Schritt zum Schutz vor sexualisierter Gewalt ein wichtiger Schritt.